
1984, an das Jahr selbst erinnere ich mich nicht mehr, da ich zu beschäftigt damit war Brei durch die sich mir gerade frisch erschließende Umwelt zu spucken und allerlei Eindrücke in mich aufzusaugen, die sich tief in meinem Unterbewusstsein verankern. An das gleichnamige Buch jedoch erinnere ich mich noch sehr gut. Einige Jahre nach dem Brei spucken finde ich mich im Deutschunterricht an der Schule wieder und bekomme diese Lektüre vorgesetzt. Es wird uns als Dystopie beziehungsweise der Erklärung dieser Begrifflichkeit präsentiert. Es handelt sich dabei um die Beschreibung einer Schreckensvision. Das erste Mal auf dieser Reise erschien mir, was den aufmerksamen Lesern meiner geistigen Ergüsse sicher aufgefallen ist, in Turkmenistan der Vergleich zu dieser Lektüre als sehr passend. Mit dem gegenwärtigen Wissen, welches ich im Folgenden zu schildern gedenke, war Turkmenistan allenfalls ein zu 25 % ausgereifter Prototyp, der maximal mit viel Rückenwind und 12 % Gefälle zu rollen vermochte.
Nach einer kurzen Visite von Almaty sitzen wir im Bus in Richtung des Reiches der Mitte. Ich habe ein flaues Gefühl in der Magengegend, was weniger von der Fahrweise des Busfahrers als von den Geschichten über unsere nächste Reisedestination herrührt, die ich in der letzten Zeit gehört und teilweise auch in Bildformaten gesehen habe. Ich kann zur Visualisierungen meiner Beschreibungen neben der Bildergalerie auch wämstens die Mediathek unseres ersten öffentlich rechtlichen Fernsehsenders empfehlen. Dort wird nicht nur klar, für welch hochwertigen Inhalte wir monatlich unsere Rundfunkgebühren entrichten, sondern auch, was in diesem Land seit vielen Jahren vor sich geht. There are 9 million bicycles in Beijing ... es hat sich anscheinend viel geändert im Land der Mitte seit Katie Melua 2005 dieses Lied veröffentlichte. Zumindest an den Orten die wir besuchen sind die Fahrräder und Roller verschwunden. Es wird nun Auto gefahren und es scheint alles nagelneu zu sein. Die Straßen, Häuser, Bahnhöfe, Züge, endlos viele Brücken und Tunnel, Strommasten, einfach alles, womit ein Staat seine Untertanen beschenken kann um die sonst doch recht reguliert lebenden Menschen abzulenken und somit zufriedenzustellen. Die Infrastrukturhausaufgaben sind gemacht und nun ist uns auch klar, wie man derart hohe Wirtschaftswachstumsraten erreichen kann. Wo jedoch das Potential für derartige Zunahmen der Wirtschaftsleistung zukünftig gehoben wird, bleibt abzuwarten.
An der ebenfalls nagelneuen Grenze öffnen sich die Türen des Busses und wir müssen mal wieder mit unserem gesammelten Gut durch diverse Kontrollinstanzen um die Ausreise zu bewerkstelligen. Wenige Minuten später stehen wir erneut in einer gigantischen Halle mit einem Scanner an der Tür, der unser Gepäck durchleuchtet. Dann zur Visaerteilung und auf direktem Wege weiter in ein kleines Separee in dem außer uns noch ein paar Auserwählte darauf warten, dass ein Beamter unsere Handys nach unerwünschten Inhalten durchsucht. Was ein Glück, dass ich noch Fotos der letzten Karnevalsfeier auf dem Handy habe, bei dem ich mich als Oberhaupt der Tibeter verkleidet habe, oder dass wir noch vor wenigen Minuten einen Bericht auf dem Tablet über 70 Jahre der selben Persönlichkeit im Exil gesehen haben. All das fällt jedoch glücklicherweise bei dieser absolut lächerlichen Kontrolle nicht auf. Dann wieder das Gepäck durchleuchten lassen und insgesamt 3 Stunden später sitzen wir wieder im Bus und setzen die Fahrt fort. Die von uns mitgeführten Äpfel und mein mich auf Reisen treu begleitendes Messer sind verschwunden, zu gefährlich. Zu meiner großen Verwunderung erhalte ich das Messer jedoch viele Stunden später vom Busfahrer zurück.
An Grenzübergängen haben wir uns an die mannigfaltig vorhandenen linsenbestückten Aufnahmegeräte bereits gewöhnt, aber auf den Straßen und in einer derartigen Vielzahl war uns das Vorkommen bisher nicht geläufig. Auf dem Weg vom Bahnhof zum Hotel habe ich so manches mal geglaubt bei der New Yorker Fashionweek über den Laufsteg zu rollen, wie einer der leicht bekleideten Engel eines relativ bekannten Unterwäschelabels. Ohne Übertreibung kann ich sagen, dass es pausenlos blitzt. Alle paar Meter werden von allen Verkehrsteilnehmern Bilder gemacht. An jeder Straßenecke ist eine Polizeistation. Alles ist irgendwie uniform, die Kleidung der allgegenwärtigen Polizisten, aber auch die sich an allen Ecken in den Himmel reckenden riesigen Gebäude. Es wird gebaut, als wenn man erwarten würde, dass ganz China in dieser abgelegenen Stadt wohnen wollen würde. Viele Gebäude gleichen einander wie ein Ei dem anderen. An jedem Eingang zu Häusern, Malls, Bushaltestellen und der Gleichen mehr stehen Sicherheitsleute und scannen das mitgeführte Gepäck. Jeder muss durch die uns von Flughäfen bekannten Sicherheitsmechanismen, mit einem entscheidenden Unterschied. Es piepst an allen Ecken und die Kontrollen sind so unfassbar lasch und absurd, wie ich es kaum in Worte fassen kann. Ich habe in einer Tasche einen Imbussschlüssel, der kaum größer ist als ein handelsüblicher Zahnstocher, und dieser soll eine größere Gefahr darstellen als das Taschenmesser, welches keiner in meinem Rucksack bemerkt hat? Auch diskutieren wir am Bahnhof über eine Kartusche Camping Gas. Die darf auf keinen Fall mit uns in den Zug, weil wir womöglich damit etwas leckereres kochen könnten als die anderen essen dürfen, oder was auch immer. Die drei weiteren Kartuschen, Werkzeug, Heringe, Messer und was noch alles in den Taschen ist, hat auch hier mal wieder keiner bemerkt. Schnell drängt sich die Vermutung auf, dass ein sozialistischer Staat anscheinend keine andere Verwendung für 1,4 mrd Menschen hat um diese bei Brot und Butter zu halten als sie mit diesen laschen und völlig Sinn befreiten Kontrollen zu beschäftigen. Es ist unergründlich womit das alles gerechtfertigt wird und noch viel weniger, warum sich keiner gegen die Zensur, Kontrolle und Bevormundung wehrt.
Widmen wir uns dem Thema Essen und Manieren. Ich kann euch versprechen, dass das breispuckende, schmatzende und manierenlose Stadium, was mir als einjähriger Rohdiamant zu eigen war, bei den hiesigen Menschen bis ins hohe Lebensalter erhalten bleibt. Beim Essen wird geschlürft, so laut geschmatzt, dass man es selbst beim pausenlosen Piepen der Sicherheitsschranken durch das halbe Restaurant vernehmen kann und Manieren sind den Menschen völlig fremd. Sie stinken, stellen sich vorn an, brüllen und jeder hört über den Lautsprecher seines Handys, was ihn persönlich gerade am meisten interessiert. Es ist eine unglaubliche Hektik, Lautstärke und in meinem Fall, eine permanent vorhandene, durch Ekel und durch diverse Körperöffnungen entweichende Geräusche hervorgerufene Gänsehaut. Unweigerlich drängt sich der Eindruck auf, dass ein völlig unkultiviertes Bauernvolk durch sich plötzlich auftuende Geldquellen in die Gegenwart gespült wurde, das Verhalten und der Geist jedoch irgendwo auf dem Standstreifen weit in der Vergangenheit vergessen wurde. Möglicherweise hat das die Führung des Landes auch erkannt und greift daher dankbar zu den eingesetzten Kontrollmechanismen, stellt zugleich sicher, dass jeder stetig in Bewegung bleibt und auf keinen Fall den Rückwärtsgang einlegt, um die auf dem Standstreifen verbliebenen Persönlichkeitsentwicklungen wieder mit auf die Reise zu nehmen. Aber ich denke das Regime kann beruhigt sein, so viele negativ geladene Teilchen werden untereinander keine Anziehungskraft entwickeln und so das etablierte System sicher nicht gefährden. Stellt sich nur die Frage, welche Wesen, ähnlich wie bei einem Bienenvolk auserwählt werden, um einen geistigen Reifeprozess zur nächst höheren Instanz durchleben zu dürfen.
Wie zu jedem Menü fehlt nun jedoch noch das Dessert mit einer anständigen Sahnehaube. Wie sich unseren bisherigen Berichten schon entnehmen lässt werden wir derzeit von zwei Fahrrädern begleitet. Unsere weitere Reise soll zunächst per Zug erfolgen und die Räder müssen ähnlich wie Haustiere im Gepäckabteil Platz nehmen. Um dies direkt zu klären radeln wir zum Bahnhof. Durch eine fehlerhafte Information des Buchungsportals, welches uns mit den Tickets versorgt hat, jedoch erstmal zum falschen. Ich fasse es mal kurz zusammen und wenn es dadurch etwas gedrungen und hektisch wirkt, das war es auch. Kleine Anmerkung der Redaktion: die nachfolgende Beschreibung umfasst in der Realität einen Zeitraum von etwa 9 Stunden. Also zum Bahnhof radeln, den Eingang nicht finden können, da sich dieser hinter einem Wald aus Zäunen, Labyrinthen zum Anstehen und Scannern verbirgt. Nach Aufspüren der undichten Stelle, Ewigkeiten warten und erneut durch eine Sicherheitskontrolle mit Scanner, zum Ticketschalter und mit einer denkunfähigen Amöbe darüber diskutieren, dass der mir vorliegende Buchungscode in ein liebevoll bedrucktes Ticket verwandelt werden soll. Nach dem Druck erkennt sie, dass wir am falschen Bahnhof sind und den Versand der Räder dann auch nur an der anderen Station klären können. Also wieder versuchen den Dschungel aus Zäunen in Richtung Blitzlichtgewitter zu verlassen und die 12 km absolvieren, die zwischen den beiden Bahnhöfen liegen. Auch bei der zweiten Destination dauert das Ausfindigmachen eines nutzbaren Zugangs nahezu eine Stunde. Wieder geht es durch eine Sicherheitsschleuse, zu einem Zaun, Schlange, und durch ein völlig undurchsichtiges Netzwerk von Wegen, die selten ein Zurück ermöglichen. Irgendwann werde ich bewaffnet mit einem internetgestützten Übersetzer und begleitet durch eine wirklich schwer bewaffnete Person zum Gepäckschalter geleitet. Nun stehe ich vor einer Person, die mir eröffnet, dass der Transport unserer Räder zur gewünschten Destination 7 Tage benötigt. Fein, ich brauche es in 9 Tagen, das sollte also klappen. Zur Sicherheit nochmal mit dem konkreten Datum gefragt und bingo: nein nein das klappt nicht. Verwunderung macht sich auf meiner Seite breit denn die Räder sollen erst am 01.09 da sein. Unter Zuhilfenahme von Papier und Stift versuche ich zu klären warum plötzlich 7 gleich 10 ist, aber was will ich von Menschen erwarten, die ohne elektronische Unterstützung nicht einmal 49+1 rechnen können? Es hilft nichts, nach einem selbst Odysseus zur Verzweiflung bringenden Irrlauf durch unterirdische Shoppingmalls erreiche ich wieder den Eingang, wo Meike gewartet hat. Es macht sich Verzweiflung und Ratlosigkeit breit, die wir bei dem besten Lösungsmittel Eis diskutieren. Dann kontaktieren wir unseren Guide für die bevorstehende Tour, um auf ihre Sprachkenntnisse zurückzugreifen und siehe da, der zweite Gang durch die Hallen der Inquisition ist erfolgreicher. Wir tauschen hoffnungsfroh unsere liebgewonnenen Begleiter gegen ein kleines gelbes Stück Papier ein und beten, dass sich dieser Tausch in der Zukunft an einem anderen Ort und zu der von uns präferierten Zeit wieder rückgängig machen lässt.
Mit dem Zug begeben wir uns auf Zeitreise in eine Gegend in der noch ein Bisschen des alten China, besser gesagt des alten Tibet, hinter hohen Felswänden versteckt versucht den eindringenden chinesischen Propagandawerbewänden, die die 70 Jahre FREIHEIT als autonome Region Tibet anpreisen, die Stirn zu bieten. Ein staatlich gefördertes Einwanderungsprogramm, unter Zuhilfenahme von öffentlich gebauten Häusern mit schicker chinesischer Flagge auf dem Dach, die sich in jedem Dorf gleichen wie ein Ei dem anderen, soll dieses Bollwerk jedoch augenscheinlich wie ein steter Tropfen aushöhlen. Noch hält sich die Tradition und der Glaube der Menschen, jedoch wird die Freiheit auch hier durch eine sich ausbreitende Kamerapest und viele Polizeikontrollen stetig untergraben. Hinzu kommen die mit den Einheitshäusern beschenkten Einwanderer, deren Gunst und Denkvermögen man sicher auf lange Zeit für sich gewonnen hat.
All das ist sicher für den geneigten Medienverfolger von uns keine große Überraschung und somit stellt sich die Frage, warum wir uns ungeachtet dessen in diese Gegend verirrt haben. Ähnlich alt wie die Visionen aus dem bereits erwähnten literarischen Gut ist auch mein Wunsch einmal den Himalaya mit dem Fahrrad zu überqueren. Leider lässt sich dabei diese Gemengenlage aus bereits erwähnten Fakten kaum umgehen.
Nach ein paar bunten Tagen im Treiben von Lhasa und dem Besuch des ehemaligen Herrscherpalastes des Dalai Lama, setzen wir uns wieder in den Sattel und machen uns auf den Weg. Zunächst lassen wir uns entlang eines großen Flusses in Richtung der am Horizont lauernden steinernen Riesen treiben. Der Plan war gemütliches Einrollen, jedoch haben wir den ersten Berg viel schneller erreicht, als selbst unsere Zwangsbegleitung erwartet hätte. Die Tatsache, dass wir wieder radeln, deutet darauf hin, dass wir unsere treuen Zweiräder rechtzeitig wieder am Bahnhof in Empfang nehmen konnten. Die Wiedervereinigung haben wir dann noch mit einer späten Ankunft auf dem ersten Pass, auf 5010 Metern gefeiert. Es ist schon ein unbeschreibliches Gefühl, wenn man es mit eigener Muskelkraft in derartige Höhen geschafft hat. Auf der gesamten Tour folgen wir immer wieder türkisen Bergseen, rollen an imposanten Gletschern vorbei und erklimmen etwa zwei Hände voll Pässe, von denen viele über 5000 Meter gen Himmel ragen. Unsere Königsetappe führt uns über einen 5256 Meter hohen Pass, mit nicht nur durch die dünne Luft atemberaubenden Ausblicken. Belohnt wurden diese körperlichen Herausforderungen mit tollen Blicken auf den Mount Everest, an dem wir in den frühen Morgenstunden vorbeiradeln. Glücklicherweise hatte der sonst fast tägliche Morgenguss an diesem Tag ausnahmsweise Spätschicht. Das Ganze sollte im Finale Furioso, ähnlich dem Auftritt der korpulenten Frau in nahezu jeder Oper, der Abfahrt in das Kathmandu Tal münden. Leider hatte die Dame Husten, genauer gesagt es wehte uns eine derart steife Brise durch das enge Tal entgegen, dass wir so manches Mal von der Straße gedrückt wurden, oder selbst kräftigstes Treten kein Vorankommen mehr bewirkt hat. Dann nach vielen Stunden auf dem Rad ist es doch geschafft und wir stehen an der Grenze. Ganz in chinesischer Manier wurde hier in kürzester Zeit ein Gebäudekomplex geschaffen, der für Aufsehen sorgt, vor allem wenn man ihn mit den Blechhütten auf der nepalesischen Seite vergleicht. Bei einem selbst nicht so genauen Blick unter den Teppich fällt der eindeutige Einwegcharakter auf, der uns auch von vielen Dingen des Alltags mit dem Aufdruck Made in China geläufig ist. Keine 3 Jahre in Gebrauch und es klaffen bereits endlose Mängel unter der prunkvollen Fassade.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Fahrt durch Tibet, wenn auch teilweise deprimierend, da wir Mitleid mit den unterdrückten Menschen haben, ein ordentlicher Berg Sahne auf dem Stück chinesischer Torte war. Da der Kuchen jedoch mit Salz statt mit Zucker gebacken wurde, bleibt einfach ein seltsamer Beigeschmack und ich denke es gibt genügend Alternativen, wo das Genusserlebnis weniger getrübt wird.
Kommentar schreiben